Die Sprache, die ich spreche – Wissenschaft im Diskurs

Ein Beitrag von Jan Finkbeiner

03. Mai 2021

Die Welt, in der man denkt, ist nicht die Welt, in der man lebt“.  So formulierte der französische Philosoph Gaston Bachelard im 20. Jahrhundert die Diskrepanz zwischen Wissenschaft und Alltag. Er spricht von einem Bruch, einem Bruch zwischen Gesellschaft und Wissenschaft. [1]
Dieser zeigt sich in der derzeitigen pandemischen Situation mehr als deutlich. Während sich der Diskurs innerhalb der Wissenschaft um R-Werte oder die Genauigkeit von Modellierungsmodellen dreht, sind in der Gesellschaft ganz andere Themen von Bedeutung.

Was bringen überhaupt Ausgangssperren?“ oder „Warum darf ich in einem vollen Bus zur Arbeit fahren, aber mich abends nicht mit meinen Freunden treffen?“. Eigentlich sollten diese Fragen von Wissenschaftler*innen leicht zu beantworten sein, denn die Entscheidung für Ausgangssperren und Kontaktverboten beruhen ja schließlich auf Ergebnissen ihrer Forschung. Doch einen wirklichen Diskurs zwischen Wissenschaft und Gesellschaft scheint es nicht zu geben. Zwar sind immer wieder vereinzelte Wissenschaftler*innen in Talk-Shows oder Zeitungsberichten zu sehen, aber als diskursiv kann man dies nicht wirklich bezeichnen. Wenn derzeit Ergebnisse kommuniziert werden, dann meist über den Weg der Politik. Dort lautet es dann „Auf Grundlage der neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse wurde Folgendes beschlossen.“. Wie man auf diese neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse kommt, wird der Gesellschaft jedoch selten vermittelt. 
Warum auch, mag man sich jetzt denken. Der Großteil der Bevölkerung interessiert sich doch gar nicht für irgendwelche wissenschaftlichen Modelle oder Methoden. Und ja, das mag stimmen, aber diese Argumentation ist zu kurz gedacht. Man sollte sich eher fragen, warum eigentlich ein Großteil der Gesellschaft scheinbar kein Interesse an einem Diskurs hat.

Die Wissenschaft hat sich im Laufe der Zeit immer stärker in ihre eigenen, oft institutionalisierten, Grenzen zurückgezogen. In diesen herrscht oft das Credo „Wissenschaft für Wissenschaft“, also das (Weiter-)Entwickeln von wissenschaftlichen Theorien und Modellen unter Ausschluss von nicht fachkundigen Personen. [2]
Hier wird in einer Sprache kommuniziert, die sich über viele Jahre innerhalb dieser Institutionen entwickelt hat, die sogenannte Fachsprache. Diese Fachsprache ist wichtig und auch essenziell für die Kommunikation zwischen Wissenschaftler*innen und der Weiterentwicklung von Wissenschaftsfeldern, doch für einen Großteil der Gesellschaft ist diese Sprache fremd und unverständlich.  Sie wirkt abschreckend und unnahbar.
Doch genau mit dieser Sprache versucht die Wissenschaft immer wieder mit der Gesellschaft in Kontakt und Diskurs zu treten. Sie will ihre Ergebnisse nach außen tragen, tut dies aber in einer Sprache, die einen Diskurs erst gar nicht zulässt. [3]
Es wäre, als würde man zwei verschiedene Personen mit unterschiedlichen Nationalitäten und Landessprachen an einen Tisch setzen und erwarten, dass diese gemeinsam über ein bestimmtes Thema philosophieren. Jeder der Überzeugung, dass seine Sprache die richtige sei – beide sprechen, aber keiner versteht.

Im Zuge einer offenen Wissenschaft sollte es jedoch die Aufgabe der Wissenschaft sein, ihre Sprache zu übersetzen und so der Gesellschaft einen Diskurs und Teilhabe zu ermöglichen.
Denn Wissenschaft sollte diskursiv sein, Wissenschaft sollte nahbar sein und Wissenschaft sollte nicht nur als Beobachter und Beforscher der Gesellschaft fungieren, sondern ein Teil von ihr sein. Denn schließlich profitiert sowohl die Wissenschaft als auch die Gesellschaft von einer ausgeprägten Diskussionskultur.

Literatur:

[1] Herzog, Walter (1995): Gaston Bachelard als Naturwissenschaftsdidaktiker. Universität Bern, Bern. Institut für Pädagogik.

[2] Faulstich, Peter; Trumann, Jana (2018): Öffentliche Wissenschaft, Modus 3 und die Vielfalt der Forschungs- und Lernorte. In: Stefan Selke und Annette Treibel (Hg.): Öffentliche Gesellschaftswissenschaften. Grundlagen, Anwendungsfelder und neue Perspektiven. Wiesbaden: Springer VS (Öffentliche Wissenschaft und gesellschaftlicher Wandel), S. 255–267

[3] Selke, Stefan; Treibel, Annette (Hg.) (2018): Öffentliche Gesellschaftswissenschaften. Grundlagen, Anwendungsfelder und neue Perspektiven. Wiesbaden: Springer VS (Öffentliche Wissenschaft und gesellschaftlicher Wandel)